Bildungsauftrag versus Tabuthema:

Wenn Kinder in einem selbstbewussten, offenen und angstfreien Bezug zu ihrem Körper bestärkt werden, ist das ein unschätzbarer Beitrag zum Kinderschutz. Diesem Gedanken folgend hat der private Kindergarten- und Hortträger KIWI – Kinder in Wien die sexuelle Bildung im Zuge der Entwicklung seines Schutzkonzepts fest in seiner Pädagogik verankert. Außerdem widmete man dem Thema eine Ausgabe der hauseigenen Fachzeitschrift „KIWI-Journal“. Zwei zentrale Überlegungen aus dieser im Juni 2024 erschienenen Publikation werden nachfolgend vorgestellt.

Sexuelle Bildung bei Kindern ist ein Thema, das zum Teil mit großer Verunsicherung auf Seiten der Erwachsenen verbunden ist: Ist es „normal“, wenn Kinder ihren Körper erforschen? Wann soll, wann muss interveniert werden? Wie unterstützt man Kinder bei der Entwicklung eines positiven Körperbewusstseins? Nicht nur Eltern, auch viele elementar- und hortpädagogische Fachkräfte stellen sich derlei Fragen.
Ein Grund für Unsicherheiten ist gewiss, dass kindliche Sexualität nicht mit erwachsener Sexualität gleichzusetzen ist. Tatsächlich sind manche der spielerischen Ausdrucksformen kindlicher Sexualität für Erwachsene gar nicht zwangsläufig als solche zu erkennen. Für eine sensible Begleitung bedarf es des Zusammenwirkens verschiedener Ansätze. Zwei, die wir auch in unserem eigenen pädagogischen Handeln bei KIWI hochhalten, präsentieren wir nachfolgend.

Körperbewusstsein durch Sensorische Integration

Ein wichtiger Bezugspunkt ganzheitlicher, körper- und sexualitätssensibler Pädagogik ist die Sensorische Integration. Dieser Begriff meint – in den Worten von Jean Ayres, Pionierin dieser Denkweise – „das sinnvolle Ordnen von Sinnesregungen im Gehirn, sodass der Mensch sich und seine Umwelt genau wahrnimmt“. Das Gelingen dieses Prozesses ist die Voraussetzung für Handlungsfähigkeit, emotionales Gleichgewicht und Selbstbewusstsein.
Sensorische Wahrnehmungen und Bewegungserfahrungen, verbunden mit Emotionen und Lusterleben, begleiten Menschen von Geburt an. Wenn sie in die Persönlichkeit integriert werden können, kann sich ein positives Körperbewusstsein ausbilden. Wenn Menschen sich „in ihrer Haut wohlfühlen“, sorgt das nicht nur dafür, dass sie ihren Körper als liebenswert ansehen und gut behandeln. Es verbessert einer 2001 durchgeführten Studie zufolge auch die Fähigkeit, das körperliche Empfinden von Mitmenschen besser einzuschätzen.

© phil-hearing– unsplash

Für den pädagogischen Alltag ist es entscheidend, Kindern gezielt entsprechende Bildungsangebote zu machen und genügend Raum für „bewegtes Lernen“ und sinnliche Erfahrungen zu schaffen. Sei es das barfüßige Balancieren auf Baumstämmen, das Befühlen unterschiedlicher Materialien oder die Möglichkeit, den eigenen Krafteinsatz im sicheren Umfeld zu erproben: Solche Erlebnisse können die Entwicklung des Körperbewusstseins positiv beeinflussen. Vorteilhaft sind darüber hinaus Spielzeuge mit Aufforderungscharakter, also etwa Bausteine, die zum Experimentieren einladen. Dass Reizüberflutung die sensorische Integration erschwert, versteht sich von selbst.

Ein reflektierter Umgang mit der eigenen Sozialisierung

Ebenso wichtig wie die professionell gestaltete Lernumgebung ist für eine ganzheitlich gedachte Pädagogik – neben zahlreichen anderen Faktoren – die Teamebene: Um Kinder bei der Entwicklung eines positiven Körperbildes optimal begleiten zu können, müssen Fachkräfte nicht nur Wissen über die frühkindliche psychosexuelle Entwicklung mitbringen. Für fundierte sexualpädagogische Handlungskompetenz braucht es außerdem die Fähigkeit, das eigene Körperbewusstsein möglichst eingehend zu reflektieren. Dies ist umso wichtiger, als Wertvorstellungen in der Fachkraft-Kind-Interaktion zu einem beträchtlichen Teil unbewusst bzw. durch bloßes „Vorleben“ weitergegeben werden (siehe zu diesem Themenbereich auch KIWI-Journal 19: „Werte und Normen im Miteinander“).

Wie haben meine eigenen Eltern reagiert, wenn sie auf Sexualität angesprochen wurden? Wie wurde über Geschlechtsteile gesprochen? Wie einfühlsam wurde mit meinen emotionalen Bedürfnissen als Kind umgegangen? Solche Fragen für sich so ehrlich wie möglich zu beantworten, kann für echte Aha-Momente sorgen und hilfreiche Einsichten in eigene Impulse im Umgang mit kindlicher Sexualität liefern. Bei Fachkräften in Kindergärten und Horten kann die biografische Selbstreflexion für Entlastung und erhöhte Handlungssicherheit sorgen.

Wichtig ist es hierzu auch, eine Atmosphäre im Team zu schaffen, in der über persönliche Unsicherheiten und Erfahrungen offen gesprochen werden kann. Eine solche Atmosphäre ist ein wesentlicher Aspekt des KIWI-Schutzkonzepts: Je reflektierter ein Team insgesamt ist, desto einfacher wird es, auf sexualpädagogische Situationen angemessen zu reagieren und Kindern einen schützenden Rahmen zu bieten, in dem sie lernen, ihre eigenen Grenzen zu achten und die Grenzen anderer zu respektieren.

# Gastbeitrag von KIWI

KIWI – Kinder in Wien ist ein privater Trägerverein, der an 92 Standorten in Wien Kindergärten und Horte betreibt. KIWI hat rund 1.700 Mitarbeiter:innen, die 8.000 Kinder im Alter von einem Jahr bis zehn Jahre auf ihrem Bildungsweg begleiten. Autor:innen des Beitrages sind Mag.a Gudrun Kern, pädagogische Leiterin und Geschäftsführerin,
Thomas-Peter Gerold-Siegl, MBA, wirtschaftlicher Leiter und Geschäftsführer von KIWI.

Die Vollversion des KIWI-Journals „Bildungsauftrag versus Tabuthema – Sexuelle Bildung im Kindergarten und Hort“ (Nr. 21, Juni 2024) kann über office@kinderinwien.at bestellt werden. Die nächste Ausgabe erscheint im November 2024 und befasst sich mit dem Thema Inklusion.

Wir bedanken uns herzlich bei unseren Journal-Autorinnen Barbara Grebesich (KIWI-Kindergartenleiterin, Inklusionspädagogin und Expertin für Sensorische Integration) und Tamara Fichtinger, BA (Unabhängige Kinderschutzbeauftragte bei KIWI), die im KIWI-Journal Nr. 21 vertiefende Artikel zum Thema verfasst
haben. Herzlicher Dank geht außerdem an das Charlotte Bühler Institut für praxisorientierte Kleinkindforschung für die Zusammenarbeit bei der Entwicklung der Schlüsselqualität „Sexuelle Bildung“ in den KIWI-Qualitätshandbüchern.

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