Gendermedizin


Haben Sie gewusst, dass bei Männern 4,6 l Blut durch den Körper gepumpt werden, um einen ganzen Liter mehr als bei Frauen? Oder dass Frauen weniger infektionsanfällig sind, weil Östrogen Zellen aktiviert, die das Immunsystem bei der Bekämpfung viraler Erkrankungen unterstützen? Dass im weiblichen Bindegewebe mehr Wasser und Fett eingelagert ist, wodurch Muskeln und Bindegewebe bei Frauen elastischer und dehnbarer sind, allerdings weniger Kraft entwickeln können als bei Männern?

Lange Zeit wurden die Unterschiede zwischen Frau und Mann in der täglichen medizinischen Praxis weitgehend ignoriert.
Medikamente wurden hauptsächlich an Männern ausgetestet, bei der Krankheitsdiagnose ist davon ausgegangen worden, dass Frauen und Männer die gleichen Symptome aufweisen, und Krankheiten, die man einem Geschlecht zugeschrieben hat, wurden in der Präventionsarbeit auch nur bei diesem Geschlecht berücksichtigt.
Erst ab den 1990er Jahren hat sich das langsam, aber stetig geändert. Nach und nach hat ein geschlechtersensibler Zugang Einzug in die medizinische Forschung und Lehre gehalten.

Was tut Gendermedizin?

Die wissenschaftliche Disziplin der Gendermedizin beschäftigt sich mit der Frage, welche Unterschiede es in Sachen Gesundheit zwischen den Geschlechtern gibt.
Denn nur wenn die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Anatomie, den Genen, dem Energiehaushalt, dem Stoffwechsel, dem Immun- und Herz-Kreislauf-System sowie auch in den Auswirkungen äußerer Einflüsse, wie Stress oder der persönlichen Lebenssituation, Berücksichtigung finden, kann jeder Mensch die für ihn optimale medizinische Betreuung erhalten.

Beispiel: Vorsorge

Lange Zeit galt Osteoporose als typische Krankheit von Frauen über 60 Jahren. Daher konzentrierte sich auch die Vorsorge- und Infoarbeit auf diese Zielgruppe. Tatsächlich gibt es allerdings immer mehr Männer mit Knochenschwund. Gendermedizinische Grundlagenarbeit und Forschung machten das offensichtlich und ermöglichen heute gezielte Prävention sowie frühzeitige Diagnostik und Behandlung auch bei Männern.

Beispiel: Diagnose

Mit mehr als einem Drittel sind Herz- und Kreislauferkrankungen die häufigste Todesursache der Österreicher:innen (Stand 2022). Noch vor wenigen Jahren lag der Anteil bei Frauen um beinahe 10 % höher als bei Männern. Das war nicht nur darauf zurückzuführen, dass Frauen früher und mehr rauchen als Männer, was sich negativ auf die Gefäße auswirkt und die Anzahl der Herz-Kreislauferkrankungen steigen lässt. Zu einem nicht unbeträchtlichen Teil lag es daran, dass die Symptome bei einem Herzinfarkt bei Frauen andere sind als bei Männern und daher in vielen Fällen eine zu späte bzw. falsche Behandlung erfolgt ist.
Während Männer üblicherweise über in den linken Arm ausstrahlenden Brustschmerz klagen, sind die Symptome bei Frauen nicht so eindeutig: Übelkeit und schwer lokalisierbare Schmerzen im Brust-, Bauch- oder Schulterbereich führten häufig zur Fehldiagnose einer Magen-Darm-Krankheit. Kombiniert mit Müdigkeit, Schwindel oder Atemnot sind diese Symptome bei Frauen allerdings typische Symptome für einen Herzinfarkt.
Seit Eingang dieses Wissens in den medizinischen Alltag reduziert sich auch die Differenz zwischen Frauen und Männern in Sachen Todesursache Herz-/Kreislauferkrankung. Aktuell liegt sie bei rund 5 %.

Beispiel: Medikation

Klinische Studien zur Wirkung von Medikamenten wurden lange Zeit so weit möglich nur an Männern durchgeführt. Einerseits weil man davon ausgegangen ist, dass der schwankende Hormonspiegel von Frauen die Ergebnisse verfälschen könnte, andererseits weil man Frauen im gebärfähigen Alter vor etwaigen Risiken schützen wollte.
Im Zuge der Austestung von HIV-Medikamenten Ende der 1990er wurde festgestellt, dass die Wirkung der Medikamente bei Frauen und Männern sehr unterschiedlich ist. Hormone, Stoffwechsel, Körperfettanteil, pH-Wert und Enzymaktivität haben wesentlichen Einfluss auf die Aufnahme der Wirksubstanzen.
So kann zum Beispiel der Frauenkörper aufgrund des generell höheren Körperfettanteils fettlösliche Substanzen besser speichern. Nehmen Frauen die für einen Mann optimale Dosis eines Medikaments mit fettlöslichen Substanzen ein, besteht daher die Gefahr einer Überdosierung.
Seit der Erkenntnis aus der Gendermedizin, dass Frauen anders auf Medikamente ansprechen als Männer, dass sie teils andere Wirkstoffe in anderer Dosierung benötigen, steht die Notwendigkeit geschlechtsspezifischer Erhebungen zur Medikamentenwirkung außer Frage.

Gendermedizin in Österreich

Österreich gehört zu den europäischen Vorreitern in Sachen Gendermedizin: 2010 wurde Dr.in Alexandra Kautzky-Willer zur ersten Professorin für Gendermedizin in Österreich an die MedUni Wien berufen, wo sie seither den europaweit ersten Universitätslehrgang für Gendermedizin leitet. Für diese Tätigkeit und für ihr Engagement, die breite Bevölkerung über die Wichtigkeit von Gendermedizin zu informieren, wurde sie 2016 zur österreichischen Wissenschaftlerin des Jahres ernannt.

Nach oben scrollen