Partizipation statt Teilhabe
Persönlichkeitsbildung durch
kulturelle Bildung
Die Theaterpädagogin Mag.a Julia Perschon MA, Leiterin der Theatervermittlung im Landestheater Niederösterreich, im #bildung-Interview zu den Möglichkeiten und Herausforderungen kultureller Bildung
Wie würden Sie „kulturelle Bildung“ definieren?
Kulturelle Bildung ist ein ganzes Universum, das es sich lohnt zu erforschen – praktisch und theoretisch. Kurz und knapp könnte man sagen, es geht um die Entfaltung der Persönlichkeit und die Gestaltung der Welt durch die aktive Auseinandersetzung mit Kultur und die aktive Teilhabe.
Welche Bedeutung hat kulturelle Bildung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen?
In einer Welt, die mehr und mehr dahin tendiert, nur noch Eindrücke zu vermitteln, geht die überlebensnotwendige Eigenschaft verloren, die Eindrücke auch zu einem Ausdruck zu formen. Ausdruck meint in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, die äußeren Eindrücke emotional und intellektuell zu verarbeiten, sodass ein sinnstiftender Zusammenhang in der Wahrnehmung der Welt und des eigenen Selbst hergestellt werden kann.
Darüber hinaus ist es von großer Bedeutung, nicht mehr nur den äußeren Eindrücken und Zwängen zu folgen, sondern in sich hineinzuhören, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, die eigene Kreativität zu entdecken, die gesellschaftlichen Strukturen in den eigenen individuellen Verhaltensweisen zu erkennen, das eigene Leben als gestaltbar zu erfahren und neue Wahrnehmungsweisen auf sich, auf andere und auf die Gesellschaft zu ermöglichen. Das alles kann kulturelle Bildung und ist für eine „gesunde“ Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unerlässlich. Kulturelle Bildung kann Kinder und Jugendliche in ihrer Bildungsbiografie und Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und wirkt nachhaltig, wenn das eigene Selbst- und Weltverständnis herausgefordert wird.
„Kulturelle Bildung eröffnet außerschulische Räume und Lernorte, bei denen ganz andere
„Regeln“ und Freiheiten als im klassischen Schulbetrieb gesetzt werden können.
Diese sogenannten „Dritten Orte“ neben dem Elternhaus und
den formalen Bildungseinrichtungen sind als Versuchslabore in der
praktischen Ausführung viel weniger Zwängen oder Vorgaben ausgesetzt.“
Ihr beruflicher Schwerpunkt liegt seit vielen Jahren in der Theatervermittlung. Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?
Ich habe das Glück, am Landestheater Niederösterreich arbeiten zu können, wo wir selbst Theaterstücke produzieren. Das heißt, Menschen können hautnah erleben, wie so eine Produktion entsteht, z.B. durch einen Besuch der Kostümwerkstatt oder einer Probe und in Gesprächen mit den Mitwirkenden. In meiner Arbeit gilt es einerseits die Geschehnisse auf der Bühne z.B. mit Workshops zu vertiefen, und andererseits mit Menschen aller Altersgruppen in einem inklusiven Rahmen Theater zu spielen und so mit ihnen auf eine künstlerische Reise mit theatralen Mitteln zu gehen.
Einmal in der Saison entwickle ich z.B. mit meinem Jugendclub eine Theaterproduktion, die sich aus den Ideen und Wünschen der Teilnehmer:innen zusammensetzt. Hier geht es stark um Partizipation, ein Wort, das mir in Bezug auf kulturelle Bildung besser gefällt als Teilhabe. Denn es geht nicht nur darum, irgendwo am Rande dabei sein zu können, sondern aktiv bei gemeinsamen künstlerischen Arbeiten mitzugestalten, mitzureden und mitzubestimmen.
Deshalb liebe ich meinen Job – vom Staunen der Allerkleinsten vor der Bühne bis zur Eroberung der Bühne durch unterschiedliche Communities.
Welche spezifischen Anforderungen stellt die Arbeit mit Kindergartenkindern?
Bei den Kleinen muss man in der Konzeption stark darauf achten, dass man sie zwar fordert, aber nicht überfordert. Ich mag besonders die Herausforderung, so zu konzipieren, dass ich z.B. Schauspielübungen für Erwachsene so runterbreche, dass sie auch für 2-, 3- oder 4-Jährige Sinn und Spaß machen. In der Umsetzung mit den Allerkleinsten warten dann viele Überraschungen für alle, die auch bei mir oft einen großen Lerneffekt auslösen. Impulse von den Kindern schwirren nur so durch den Raum und ich versuche, sie gleich in meine Arbeit einzubauen und sie den Kleinen wieder in einer Variation zurückzuspielen. Der Versuch auf Augenhöhe mit den Allerkleinsten zu kommunizieren macht Spaß und ich nehme sie ernst, egal was sie tun.
Was ist die größte Herausforderung bei der Arbeit mit Schüler:innen?
Einen anderen Raum zu eröffnen als ein Klassenzimmer, auch wenn es ein Klassenzimmer ist. Wenn ich mit einem Projekt oder einem Workshop in eine Klasse gehe, fängt das schon mal damit an, dass der Raum leergeräumt werden muss, sodass Platz für neue Ideen und andere Arbeitsweisen geschaffen werden kann.
Die Rollen in der Klassengemeinschaft sind manchmal recht festgefahren. Da durchzubrechen und die Wand von Klischees hinter sich zu lassen, ist anstrengend, lohnt sich aber für alle. Denn dann kann man den Klassenverband auch als Kollektiv nützen. Es stehen nicht die „üblichen Verdächtigen“ mit ihrer Persönlichkeit im Vordergrund, sondern Zusammenarbeit und Zusammenhalt und das Erleben, gemeinsam etwas zu schaffen.
Hier habe ich natürlich im wahrsten Sinne des Wortes mehr Spielraum als Pädagog:innen, die jeden Tag im Klassenzimmer stehen. Ich muss nicht Wissen vermitteln, sondern kann sehr viel Freiheit im eigenen Ausdruck erlauben. Wenn ich z.B. mit dem Jugendclub Schreibwerkstätten mache, gibt es bei den kreativen Aufgaben explizit den Input, nicht auf Rechtschreibfehler und Grammatik zu achten. Auch Sprachen-Vielfalt hat hier den notwendigen Raum. Viele entdecken so erst, dass Schreiben eigentlich Spaß macht, und sind erstaunt über ihre Ergebnisse.
„Als Theatervermittlerin bin ich nicht
Bestimmerin, sondern Ermöglicherin.“
Kommen wir abschließend noch einmal zu Grundsätzlichem: Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit von der Politik?
Dass Kunst und Kultur, Bildung und die Lebenswelten und Zukunft von jungen Menschen mehr in den Fokus rücken. Als Kulturvermittlerin versuche ich mit meiner Arbeit immer wieder Neuland zu betreten, und das würde ich mir von der Politik auch wünschen, besonders in Zeiten, wo bisher vermeintlich tragfähige Antworten und Reaktionen, Handlungs- und Lösungsstrategien nicht mehr funktionieren.
Überall braucht es scheinbar nicht nur kleine Schritte und Reformen, sondern größere Transformationsprozesse. Wir brauchen beispielsweise keine Reform des Schulsystems, sondern eine Transformation der Bildungsangebote dieser Gesellschaft. Und warum nicht gleich Theaterbesuche für Kinder und Jugendliche auf Krankenschein, denn Kunst kann auch zum mentalen und emotionalen Wohlbefinden beitragen.
ᐅ Weitere Infos zu den Projekten
Die studierte Philosophin, Soziologin und Theaterpädagogin Julia Perschon ist Leiterin der Theatervermittlung im Landestheater Niederösterreich, wo sie partizipative Formate für Bildungseinrichtungen, Kinder und Jugendliche entwickelt und umsetzt.