Schulvermeidung

Psychotherapeutin Mag.a Sigrun Eder im #bildung-Interview zum Umgang mit schulvermeidendem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen

Was führt zu Schulvermeidung?

Es gibt viele verschiedene Ursachen, die sich punktuell anhäufen und irgendwann zur Schulvermeidung führen. Mir gegenüber beschreiben Eltern und Betroffene häufig zuerst das Vorliegen hartnäckiger körperlicher Beschwerden.
In der Reflexion berichten sie dann von jeder Menge Ängsten, sozialen Ängsten, Versagensängsten, Prüfungs- oder Verlustängsten, von Ablehnungs- und Abwertungserfahrungen mit Gleichaltrigen, von Konflikten mit Mitschüler:innen bis hin zu Mobbing oder Problemen mit bestimmten Lehrpersonen. Wiederholt erzählen Kinder und Jugendliche auch vom Vorhandensein einer großen Traurigkeit und inneren Leere, von Konzentrationsproblemen, Überforderungsgefühlen oder belastenden Erinnerungen.

Welche ersten Warnzeichen gibt es?

In der Früh schwer aus dem Bett kommen, Ausreden für den Nicht-Schulbesuch erfinden, körperliche Beschwerden übertreiben, Übelkeit vor Prüfungen, die in Panikattacken gipfelt: all das sind Zeichen einer ungünstigen Entwicklung.
Ein weiteres Alarmsignal ist der Verlust guter Freund:innen oder das generelle Fehlen von Schulfreund:innen.
Manche Kinder und Jugendliche sind im Umgang mit ihren Klassenkolleg:innen extrem gehemmt und leiden darunter, keine Bezugsperson in der Klasse zu haben. Pausen werden als etwas Schreckliches erlebt, weil dieses Fehlen dann besonders offensichtlich wird. Andere wiederum sind sehr reizempfindlich und reagieren mit großer Erschöpfung auf intensive Schultage.

Worauf können bzw. sollten Pädagog:innen achten?

Warnzeichen für Pädagog:innen sind häufiges Fernbleiben wegen Krankheit, wenige soziale Kontakte in der Klasse, Schwierigkeiten, mit Leistungsanforderungen umzugehen.
Wirkliche Alarmsignale sind häufiges Fehlen unmittelbar vor und bei Prüfungen und Referaten oder das Entwickeln von hohem Stress nach dem Aufgerufenwerden. Kinder und Jugendliche mit einer sozialen Phobie haben das Gefühl, zu sterben, wenn der Scheinwerfer auf sie gerichtet ist. Sie reagieren stark körperlich mit Schwindel, Übelkeit, einem Blackout oder einer Panikattacke. Die Angst, in eine peinliche Situation zu geraten und durch andere beschämt zu werden, ist so riesig, dass diese Kinder lieber alles daransetzen, einer solchen Situation rechtzeitig zu entkommen, als sie zu meistern.

Was sollen Pädagog:innen im Verdachtsfall tun?

In diesem Fall sollten die Pädagog:innen den Kontakt mit den Eltern suchen und – nach Absprache mit diesen – mit den Betroffenen. Gespräche dieser Art sollten aber nie vor der Klasse angekündigt werden, meine Patient:innen betonen immer wieder, dass sich das tatsächlich „wie Sterben“ anfühlt.
Für betroffene Kinder und Jugendliche ist die Schule ein Ort permanenter Gefahr. Allein dieses Bewusstsein hilft bereits, sie besser zu verstehen und unterstützen zu können. Bestätigt sich der Verdacht der Schulvermeidung, gilt es, die Balance zwischen Zumuten und Zutrauen zu finden. Das ist wirklich diffizil und kann nur individuell erarbeitet werden. Dieses Eingehen auf individuelle Charaktere bindet zusätzliche Ressourcen, über die Pädagog:innen nicht wirklich verfügen. Wichtig ist aber zu bedenken, dass individuelles Eingehen auf betroffene Schüler:innen einer mehrmonatigen Schulvermeidung mit stationärer oder tagesklinischer Behandlung vorbeugen kann.
Der Weg in die Schulvermeidung geht ziemlich schnell, das Zurückfinden in den Schulalltag und die Re-Identifikation als Schüler:in stellen hingegen eine extreme Hürde dar. Schon der bloße Gedanke an Schule und all die entstandenen Wissenslücken führt bei vielen Kindern und Jugendlichen zu Resignationsgefühlen.
Daher empfehle ich auch den Austausch mit Beratungslehrer:innen, Schulpsycholog:innen, Schulärzt:innen oder externen Ansprechparter:innen, die andere Zugänge aufzeigen und damit bei dieser Herausforderung unterstützen können.

Mit welchen konkreten Maßnahmen können Pädagog:innen betroffene Schüler:innen unterstützen?

Aus der täglichen Praxis weiß ich, dass Betroffene sehr schnell bewerten, was hilfreich ist und was nicht. Hilfreich ist definitiv, das Problem wahrzunehmen, es anzusprechen und nach Lösungen im Kontext Schule zu suchen.
Pädagog:innen können zum Beispiel Wahlmöglichkeiten anbieten und so ihren Schüler:innen entgegenkommen. Insbesondere im Bereich der Leistungserbringung ist eine unterstützende Haltung wirksam:

  • Ist es möglich, ein Referat oder eine Prüfung statt vor der ganzen Klasse lediglich in Anwesenheit der Lehrkraft zu halten?
  • Darf die Gruppenarbeit im Kreis vertrauter Mitschüler:innen stattfinden?
  • Können Unklarheiten zum Stoff in einer privaten Sprechstunde oder anderweitig unauffällig geklärt werden?
  • Macht ein verkürzter Unterricht Sinn?
  • Welche alternativen Möglichkeiten der Leistungserbringung gibt es?

Jede gute Erfahrung schwächt schlechte Erfahrungen ab, und jeder gänzlich besuchte Schultag stellt eine wichtige Chance für den/die Schüler:in dar.
Einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Situation können auch professionelle Workshops zur Förderung der Klassengemeinschaft oder einem zumindest neutralen Umgang miteinander leisten. Ein Workshop reicht allerdings nicht aus, um Interaktionsprobleme zu beheben, dafür bedarf es schon mehrerer.

Was können Pädagog:innen präventiv tun?

Den Wert auf eine wertschätzende Schüler:innen-Lehrer:innen-Beziehung legen, den Blick auf Gelungenes richten, Leistungskonkurrenz in Schach halten und auch zurückhaltende Schüler:innen wahrnehmen, deren Verhalten sich nicht ungünstig auf den Unterricht auswirkt und die daher öfter übersehen werden.
Damit lässt sich Schulvermeidung zwar nicht grundsätzlich vermeiden, man erkennt sie aber viel rascher und kann betroffene Schüler:innen besser dabei unterstützen, wieder in einen „normalen“ Schulalltag zurückzufinden.

Mag.a Sigrun Eder ist Klinische Psychologin und Psychotherapeutin an der Universitätsklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie Salzburg, Gesundheitspsychologin sowie Begründerin und Hauptautorin der SOWAS-Sachbuchreihe für Kinder und Jugendliche bei der edition riedenburg.

„Zurück in die Schule – Hindernisse überwinden und wieder
regelmäßig am Unterricht teilnehmen“
edition riedenburg (2024)

Das Buch liefert praxisorientiertes Wissen zum Problem der Schulvermeidung.
Der leicht lesbare SOWAS!-Titel sensibilisiert Betroffene wie Außenstehende gleichermaßen. Die Mitmach-Seiten liefern unter anderem Antworten auf die Fragen: Wo liegt das Problem und was braucht es, damit regelmäßige Schulbesuchstage wieder gelingen?
Als Paperback und auch als E-Book u.a. bei Morawa und Thalia bestellbar.

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